Erst 23 Jahre ist Theobald Friedrich Seitz alt, als er sich seinen Herzenswunsch erfüllt und ein Weinkommissionsgeschäft gründet. Seine erste Niederlage hat er zu diesem Zeitpunkt bereits einstecken müssen: Alle Versuche, den vom früh verstorbenen Vater geerbten und nicht gerade florierenden Kolonialwarenhandel zu sanieren, waren erfolglos geblieben. Auch das Geschäft mit dem Wein ist nicht so einfach, wie Theo Seitz sich das vielleicht vorgestellt hatte. Immer wieder gibt es Reklamationen, weil der – oft bis nach Übersee – ausgelieferte Wein Trübungen aufweist, obwohl die im Keller der Weinhandlung gelagerte Ware der gleichen Charge glasklar geblieben ist. Als Ursache des Problems ist schnell der Sackfilter ausgemacht, damals die einzige Methode, Wein zu klären. Der Filter hält Trubstoffe zwar zurück, bildet aber einen idealen Nährboden für Mikroorganismen. Logisch, dass ein zunächst reiner Wein so verkeimt und schon nach kurzer Zeit trüb wird.

Klare Sache

Seitz muss also selbst eine Lösung finden. Lange experimentiert er ohne durchschlagenden Erfolg mit verschiedenen Filtermaterialien, bis er auf Asbest stößt, das er mit dem trüben Wein vermischt und in seinen Experimentierfilter gießt, ein kegelförmiges Sieb aus Drahtgeflecht mit einer Tüllgewebeeinlage. Jetzt funktioniert es endlich: Der Wein fließt kristallklar ab, ohne an Bukett oder Farbe eingebüßt zu haben. Die Brüder Seitz – inzwischen ist auch der acht Jahre jüngere Georg Heinrich in das Unternehmen eingetreten – forschen weiter, um die Aufbereitung des faserigen Asbests zu optimieren. Noch nach Jahrzehnten bezeugen die in Rage an die Kellerwände geschleuderten Anschwemmschichten aus weniger gelungenen Versuchen, dass die Erfolge durchaus auf sich warten ließen.

Erfolgreiche Premiere

Die Weinhandlung floriert, aber die Seitz‘ wollen jetzt mehr: 1891 beginnen die Geschwister mit der Fabrikation von Filtermaterialien und der Konstruktion von Filterapparaten, für die zunächst noch Teile aus einer Kreuznacher Klempnerwerkstatt bezogen werden. So bringen sie ihren ersten Filter auf den Markt und ernten Anerkennung und Lob: 1894 empfiehlt etwa Julius Neßler, ein führender deutscher Agrochemiker und Weinexperte, auf dem Weinbaukongress in Mainz das von ihm so genannte „Apparätle“ zur Filtration kleiner Mengen – was quasi einer Heiligsprechung gleichkommt.

Stolz präsentieren sich Unternehmensleitung und Belegschaft mit dem tausendsten Asbestfilter für Großbetriebe.
Stolz präsentieren sich Unternehmensleitung und Belegschaft mit dem tausendsten Asbestfilter für Großbetriebe.

Der Name Seitz ist jetzt in der Fachwelt im In- und Ausland nicht mehr wegzudenken. Innerhalb von nur fünf Jahren sind 8.000 Filter verkauft. Mit einer für die Anschwemmfiltration mit Asbest umgerüsteten Weinfilterpresse kann nun auch ein ganzes Fass filtriert werden. 1898 zieht das Unternehmen in größere Räumlichkeiten. Die Apparate werden jetzt komplett in Eigenregie gefertigt, und das Weinkommissionsgeschäft wird aufgelöst, die angeschlossene Kellerei jedoch zu Versuchszwecken weiterbetrieben. Die Belegschaft wächst auf 100 Mitarbeiter an. 1901 wird der „Riesenfilter“ präsentiert, der für beeindruckende Leistungen von bis zu 60.000 Liter pro Tag aus­gelegt ist.

Breites Sortiment

Theo und Georg Seitz setzen auf Diversifizierung: Neben dem Flaschenabfüllfilter „Komet“ und den Filtermaterialien mit klangvollen Namen wie „Brillant-Theorit“, „Komet-Theorit“ oder „Crystall“ vermarktet das junge Unternehmen eine ganze Palette an Kellereigeräten: Das Angebot reicht vom Quirler bis zum Digerierapparat zur Herstellung von Essenzen, von Pumpen verschiedenster Bauart über Abfüllhähne bis hin zum Korkenzieher „Ein-Ruck“, über den es im Katalog schwärmerisch heißt: „Äußerst praktisch, sehr zu empfehlen! Denkbar einfachste Handhabung.“

Angesichts der riesigen Produktvielfalt und einer stolzen Zahl von inzwischen 40.000 Kunden weltweit ist es kein Wunder, dass es räumlich erneut eng wird. 1910 erwerben die Brüder Seitz ein 26 Hektar großes Grundstück, auf dem bis 1912 die repräsentativen Bauten der Seitz-Werke entstehen, wie das Unternehmen sich inzwischen nennt.

INFO

Wunderfaser mit Kehrseite

Asbest bezeichnet natürlich vorkommende, faserförmig kristallisierte Silikat-Minerale. Wegen seiner großen Festigkeit, seiner Hitze- und Säurebeständigkeit sowie seiner hervorragenden Dämmeigenschaften wurde der Werkstoff jahrzehntelang als „Wunderfaser“ gefeiert. Zum Einsatz kam er unter anderem in der Werftindustrie, der Bauindustrie, der Autoreifenindustrie sowie für Textilien im Bereich des Arbeitsschutzes und der Filtration.

Anders als bei der einfachen Siebwirkung, bei der die Poren eines Filters beziehungsweise der Filtermasse kleiner sein müssen als die durchschnittlichen Trubstoff-Teile, funktioniert die Filtration mit Hilfe von Asbest durch Adsorption: Die heraus­zufilternden Stoffe oder Mole­küle bleiben auf der Oberfläche der Asbestfasern haften und reichern sich dort an.

Außer in der Getränke- und Pharmaindustrie kamen die Asbest-Feinfilter auch in der Chemie-, Fett- und Ölindustrie international zum Einsatz. Anfang der Fünfzigerjahre stellt der Prüfingenieur Karl Frank in einer Publikation über Asbest fest: „Es gibt keinen Winzer oder Weinhändler, der heute nicht seinen Wein durch Asbest filtriert, um ihm ein blankes Aussehen zu geben. Asbestfilter lassen in einem halben Tag so viel klaren Wein durchlaufen, wie die früher gebrauchten Zellulosefilter in einer ganzen Woche.“

Heute wird Asbest trotz seiner hervorragenden Wirkung als Filtermittel aus gesundheitlichen Gründen auch in der Getränkeindustrie nicht mehr verwendet. Gelangen die nadelförmigen, mikroskopisch kleinen Asbestteilchen als Staub über die Atemluft in die Lunge, können sie die sogenannte Asbestose und damit verbunden Lungen- oder Zwerchfellkrebs auslösen. Gefährdet waren weniger die Getränkekonsumenten als die Arbeiter in den Asbestminen und das Personal im Getränkebetrieb, wo etwa durch den Abrieb von Filterschichten eine akute Gefährdung entstehen konnte.

Der Einsatz von Asbest insgesamt ist inzwischen in vielen Staaten verboten. Seit Mitte der Achtzigerjahre kommen in der Entkeimungsfiltration Kombinationen aus Zellstoffen, Kieselguren, Perliten und faser- oder pulverförmigen Hilfsstoffen zum Einsatz.

Wissenschaftlich fundiert

Dennoch wollen sich Theo und Georg Seitz nicht mit dem bereits Erreichten zufriedengeben: Früh haben sie erkannt, dass die Asbestfiltration nicht nur hinsichtlich der Rohstoffe qualitätsgesichert werden sollte, sondern dass die Verfahren wissenschaftlich fundiert und optimiert werden müssen. Untersuchungen des renommierten Bakteriologen Professor Karl Krömer beweisen zwar, dass sich mit Brillant-Theorit gegenüber den sonst üblichen Methoden mit einer Keimentfernung von 80 beziehungsweise 90 Prozent sogar ein Wert von 99 Prozent erzielen lässt. Für die Brüder Seitz ist das eine Herausforderung: Sie wollen einen Filter entwickeln, der so feinporig ist, dass in ihm Flüssigkeiten tatsächlich 100 Prozent keimfrei und damit steril gemacht werden können.

Bei diesem Plan erweist sich eine Neueinstellung als bahnbrechend: Am 1. April 1913 tritt der Krömer-Schüler Friedrich Schmitthenner seinen Dienst bei den Seitz-Werken als Leiter des bakteriologischen Labors an – eine Position, die er bis 1945 ausfüllen wird. Innerhalb von nur einem Jahr gelingt es ihm, eine Filterschicht zu entwickeln, die nicht nur filtriert, sondern ein absolut keimfreies Filtrat erzielt. Die Fachwelt erkennt diese Leistung ohne Wenn und Aber an – der neue Filter legt den Grundstein für eine neue Epoche der Filtrationstechnik: Ohne die oft qualitätsmindernde Erhitzung im Rahmen der Pasteurisierung und ohne den Zusatz chemischer Konservierungsstoffe können jetzt Flüssigkeiten jeder Art von Hefen, Bakterien und Krankheitserregern befreit und damit haltbar gemacht werden. Die Voraussetzung für die kaltsterile Abfüllung von Wein, Bier, Fruchtsäften oder Pharmazeutika ist geschaffen.

Bevor der neue Entkeimungsfilter von Seitz weltweite Verbreitung findet, dauert es noch: Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen und der Großteil der männlichen Belegschaft wird zum Militärdienst an der Front eingezogen. Schmittheller nutzt die Zeit dazu, die bisher unter Laborbedingungen hergestellten Entkeimungsschichten zur Serienreife zu bringen. Vorwiegend weibliche Hilfskräfte führen jeden Arbeitsgang von Hand durch: vom Einmaischen des Rohmaterials über das Auftragen der Filtermasse auf die Formsiebe, den sogenannten Nutschen, bis hin zum Einbringen der feuchten Schichten in Trockenöfen.

Laborleiter Friedrich Schmitthenner (links) und einer seiner Mitarbeiter im anwendungstechnischen Labor der Seitz-Werke.
Laborleiter Friedrich Schmitthenner (links) und einer seiner Mitarbeiter im anwendungstechnischen Labor der Seitz-Werke.

Mobile Entkeimung

1916 präsentieren Georg Seitz und Friedrich Schmitthenner den Entkeimungsfilter in Berlin bei der Heeres-Prüfungsstelle und dem Amt für Wasserhygiene. Als sie vom Amtsleiter zunächst nur ein ungläubiges Lächeln ernten, füllt Seitz kurzerhand ein Glas mit von Schmitthenner zur Demonstration entkeimtem Spreewasser und leert es in einem Zug. Beeindruckt von dieser beherzten Beweisführung nimmt der Amtsleiter das Wasser persönlich unter die Lupe und muss schließlich kleinlaut einräumen, dass der Filter tatsächlich keimfreies Wasser liefert. Das Oberkommando des Heeres gibt daraufhin den Seitz’schen Entkeimungsfilter für den Einsatz bei der Truppe frei. Eilends wird in Kreuznach eine Tornisterversion davon konstruiert, die von Soldaten im Einsatz leicht transportiert und zur Sterilisation des Trinkwassers an der Front genutzt werden kann. Schnell geht die Zahl der durch verunreinigtes Wasser entstehenden Erkrankungen mit Cholera oder Typhus zurück.

In Bad Kreuznach tritt um 1918 die zweite Generation in die Führung des Unternehmens ein. Die beiden Gründer bleiben den Seitz-Werken jedoch noch lange erhalten: Theodor bis zu seinem Tod 1929, Georg bis zu seinem Rückzug aus der Geschäftsführung, ein Jahr nachdem 1937 das fünfzigjährige Firmenjubiläum noch glanzvoll gefeiert wurde. 1938 stirbt auch Georg und wird unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt.