Auch wenn Digitalisierung in aller Munde ist, meinen nicht alle dasselbe. Können Sie helfen, Herr Kassel?

Digitalisierung ist eine Form von Disruption, in der bewährte Industrien im Zeichen intelligenter Vernetzung einen vollständigen Umbruch durchlaufen. In diesem Prozess werden bestehende und traditionelle Geschäftsmodelle, Produkte, Dienstleistungen oder Technologien immer wieder von Innovationen abgelöst und verdrängt. Das ist keinesfalls neu – schließlich werden beispielsweise analoge Maschinen bereits seit den Sechzigerjahren durch numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen abgelöst. Statt von einer Revolution würde ich deshalb eher von einer digitalen Evolution sprechen, da bestehende Investitionen nicht schlagartig abgelöst werden können.

Wie viel Substanz steckt aus Ihrer Sicht hinter dem Hype um die Digitalisierung?

Digitalisierung ist kein vorübergehender Trend, sondern ein Faktum, das sich seit Jahrzehnten in vollem Gange befindet: Der technologische Fortschritt beschleunigt sich exponentiell; neue Technologien kommen in immer kürzeren Zeitabständen auf den Markt. Für mich befinden wir uns aber erst am Anfang einer Ära, in der unsere Wirtschaft grundlegend umgebaut wird. Digitalisierung ist dabei der entscheidende Erfolgsfaktor für Unternehmen aller Branchen.

Wie beurteilen Sie den Stand der Digitalisierung in Deutschland und weltweit? Wo sehen Sie Nachholbedarf?

Je nachdem, welche Statistik man bemüht, steht Deutschland in der Rangfolge digitalisierter Länder mal mehr, mal weniger weit vorne – ein „digitales Entwicklungsland“, wie es bisweilen kritisch genannt wird, ist es jedenfalls nicht. Während die USA als radikale Innovatoren gelten, steht Deutschland für Engineering Excellence. Aus unserer Technologieführerschaft in der Produktion heraus können wir uns im Rahmen der Digitalisierung zu einem Leitanbieter im Bereich intelligenter Produktionssysteme entwickeln. Insgesamt kann die Geschwindigkeit, mit der deutsche Unternehmen die Digitalisierung vorantreiben, aber noch erhöht werden. Und die Politik muss mit entsprechenden Gesetzen und Regularien dafür sorgen, dass unser Land wettbewerbsfähig bleibt. Bei den Themen E-Government und IT-Infrastruktur haben unsere Städte und Behörden noch enormen Aufholbedarf.

Wie verändern sich Kundenansprüche in einer zunehmend digitaleren Welt?

Konsumenten fühlen sich von den einfach zu bedienenden Oberflächen bei Google oder Amazon verwöhnt und erwarten zunehmend selbstverständlich, ähnliche Erfahrungen auch bei anderen Unternehmen zu machen. Sofortiger Nutzen, mobile Funktionalitäten und eine individuelle persönliche Ansprache sind nicht länger ein Bonus, sondern eine Basisanforderung. Intuitive Bedienerkonzepte und das Tracking von Bestellungen und Versand kommen zunehmend auch bei Industrieunternehmen zum Einsatz – beispielsweise in der Abwicklung des Ersatzteilgeschäfts. Hier sehen wir auch ein Empfehlungsmanagement auf Basis von passenden und häufig dazugekauften Produkten – ganz wie bei Amazon.

Wie disruptiv können Digitalisierungsprojekte abseits von Konsumgütern in der Industrie und im Mittelstand sein?

Der Wettbewerb kommt zukünftig nicht mehr unbedingt aus der eigenen Branche. Häufig tauchen ganz neue Player und Start-ups plötzlich am Markt auf und brechen einen wahren digitalen Wirbelsturm los. In der Telekommunikation zeigt das Beispiel WhatsApp, wie schnell auch branchenfremde Player eine etablierte Industrie bewegen können – das gilt auch im Business-Bereich mit Messaging-Plattformen wie Yammer oder Slack, die unternehmensintern eine schnellere, agile Kommunikation ermöglichen. Ein gutes Beispiel aus dem Mittelstand ist Viessmann: Der traditionsreiche Heizungsbauer sah sich gezwungen zu handeln, nachdem der Wettbewerber Thermondo mit einer Online-Konfigurationslösung den Markt aufrollte. Mit Wattx hat Viessmann daraufhin einen eigenen Company Builder geschaffen, der rund um das Internet of Things (IoT) und Hardware erfolgreich neue Geschäftsideen entwickelt und ausgründet.

Welche neuen Geschäftsmodelle müssen Industrieunternehmen hinsichtlich ihrer Digitalisierung entwickeln?

Gerade im Maintenance-Bereich eröffnen sich hier viele innovative Möglichkeiten, die angesichts sinkender Margen im Neumaschinen-Geschäft aus­geschöpft werden müssen. Gute Beispiele sind die Triebwerkshersteller MTU und Rolls Royce, die „Fly-by-hour“-Verträge mit einer Art Versicherungscharakter anbieten: Die Kunden bezahlen pro Flugstunde, die ein Triebwerk geleistet hat, eine festgelegte Gebühr an die MTU Maintenance. Der Wartungsbetrieb stellt im Gegenzug sicher, dass die Reparatur der Triebwerke sowohl bei geplanten als auch bei ungeplanten Shop Visits abgedeckt ist.

»Die Geschwindigkeit, mit der deutsche Unternehmen die Digitalisierung vorantreiben, kann noch erhöht werden.«

Welche ganz konkreten Veränderungen bringt die digitale Evolution für einen Maschinen- und Anlagenbauer?

Traditionell gehören Maschinen- und Anlagenbauer zu den Vorreitern in der Nutzung moderner Technologien, zum Beispiel von Produktionsplanungssystemen und ERP*-Systemen. Die Digitalisierung wird die Branche weiter verändern und die Unternehmen vor vielfältige Herausforderungen stellen. Durch intelligente Verknüpfungen entstehen im Maschinenbau Softwareplattformen, die der Vernetzung von Maschinen, Geräten und Produkten dienen. Durch die Verwendung von Sensorik, deren Vernetzung und durch Big Data Analytics können beispielsweise bislang aufeinanderfolgende Schritte wie Produktion, Prüfung und Rekalibrierung der Maschinen künftig zeitgleich und besser aufeinander abgestimmt erfolgen. Das eröffnet neue Optionen hinsichtlich der Wartung und Instandsetzung von Maschinen oder der Anpassung von Aufträgen bei laufender Produktion bis hin zur Losgröße 1, also der individuellen Fertigung zu Preisen einer Serienherstellung. Die Analyse und Auswertung von Echtzeitdaten ermöglicht datenbasierte Geschäftsmodelle, die in Zukunft einen großen Anteil zum Umsatz beitragen werden. Und der Einsatz von 3-D-Druckern wird sich auf die Dauer im Bereich von Modellen und der Produk­tion von Kleinserien sowie von Ersatz- und Verschleißteilen aus Kunststoff oder Metall durchsetzen. Das verkürzt Produktions- und Lieferzeiten drastisch. Agilität – also die Fähigkeit, schnell auf Veränderungen reagieren zu können – wird schon bald zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor.

* ERP = Enterprise-Resource-Planning: die unternehmerische Aufgabe, Ressourcen wie Kapital, Personal, Betriebsmittel, Material, Informations- und Kommunikationstechnik und IT-Systeme im Sinne des Unternehmenszwecks rechtzeitig und bedarfsgerecht zu planen und zu steuern.

Welches Vorgehen halten Sie für sinnvoll?

Aus den Antworten auf all diese Fragen ergeben sich individuell verschiedene Vorgehensweisen. Unternehmen können beispielsweise einen digitalen Beirat mit internen und externen Experten einrichten oder einen CDO – einen Chief Digital Officer – implementieren. Dieser muss jedoch innerhalb der Geschäftsleitung angesiedelt und mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet werden. Ein weiterer, oft mit Erfolg beschrittener Weg ist das Venture Building, also der Aufbau von beziehungsweise die Beteiligung an einem oder mehreren unabhängigen Start-ups, die schneller Ideen produzieren und umsetzen können als das Unternehmen selbst.

Was betrachten Sie als Voraussetzungen für eine erfolgreiche Digitalisierung?

Digitalisierung ist ganz klar Chefsache und muss von der Unternehmensleitung vorangetrieben werden. Diese muss sich folgende Fragen stellen: Wie positionieren wir uns als Unternehmen angesichts sich dramatisch verändernder Kundenbedürfnisse? Wie groß ist das Potenzial der Bedrohung durch Veränderungen innerhalb und außerhalb unserer eigenen Branche? Womit können wir uns als Unternehmen in Zukunft differenzieren? Wie können wir unser Geschäftsmodell digitalisieren? Über welche digitalen Fähigkeiten und Kernkompetenzen verfügen wir innerhalb unseres Unternehmens – und welche benötigen wir? Wie gestalten wir ein über alle Kanäle konsistentes positives Kundenerlebnis? Wie können wir mit digitalen Start-ups kooperieren? Welches Nutzenversprechen können wir unseren Kunden zukünftig offerieren? Welche Kooperationen sind für uns in Zukunft wichtig? Und welche unserer Assets können wir für neue Geschäftsmodelle nutzen?

Welche internen oder externen Risiken sind mit der Digitalisierung verbunden?

Der Management-Denker Peter Drucker hat einmal gesagt, dass die größte Gefahr in Zeiten des Umbruchs nicht der Umbruch selbst sei, sondern, ihm mit veralteter Logik zu begegnen. Dem schließe ich mich an. Gerade intern gesehen sind die Risiken zahlreich: Häufig wird im Unternehmen der digitale Wandel nur aus den bestehenden Strukturen heraus betrieben. Das führt zu einer Innensicht, die mit der Gefahr einer trügerischen Selbsteinschätzung verbunden ist. Wer auf die disruptiven Veränderungen von Märkten und Kundenbedürfnissen reagieren will, für den ist der regelmäßige Blick über den Tellerrand unabdingbar, um sowohl die Entwicklungen des Wettbewerbs und von branchenfremden Playern als auch die Kundenwünsche im Auge zu behalten. Erforderlich ist in diesem Zusammenhang auch eine konkrete Bewertung der gesamten Wertschöpfungskette. Hierbei kann gerade im Hinblick auf externe Risiken eine fundierte Einschätzung oder Bewertung von außerhalb des Unternehmens sehr hilfreich sein, um den eigenen digitalen Status quo transparent zu machen.

Was sind für Sie besonders gelungene Beispiele für Digitalisierung?

Im Konsumgüterbereich ist CEWE ein sehr naheliegendes Beispiel: Früher einmal das größte deutsche Foto­labor, hat man dort seit 1997 über 350 Millionen Euro investiert, um sich vom analogen zum digitalen Full-Service-Fotodienstleister zu entwickeln. Nachdem das Unternehmen 1998 die erste Online-Bestellmöglichkeit in ganz Europa anbot, konnte das sukzessive Verschwinden von Filmen und Filmentwicklung durch das Geschäft mit Zusatzprodukten wie Kalendern und Fotobüchern mehr als kompensiert werden. Oder denken Sie an BMW und ­Daimler, die mit ihren Carsharing-Angeboten DriveNow und Car2go Autobesitz ganz neu definieren: Millionen von Autofahrern teilen sich stationsungebunden und flexibel ein paar tausend Fahrzeuge. Eine mobile App führt sie zum nächstgelegenen Auto, bezahlt wird pro Minute. Im stationären Handel fällt mir der virtuelle Einkaufszettel von Carrefour ein: Die französische Supermarkt­kette führt den Verbraucher mit einer mobilen App namens ­C-Où durch das Geschäft. Die App zeigt, wo die von ihm benötigten Waren liegen, und liefert ­Informationen, die weitere Einkäufe auslösen sollen.

Ähnliche Anwendungen sehen wir auch in der Industrie immer häufiger, wo Maschinen miteinander kommunizieren, Verbrauchs- und Verschleißdaten auf mobile­ Endgeräte übertragen werden und die Bedienung von Anlagen zusehends intuitiver und einfacher wird, etwa durch Gestensteuerung oder Wischen, wie man es vom Smartphone kennt.

Das Verbindende an diesen Beispielen ist der Fokus auf die Convenience für den Kunden beziehungsweise für die Zielgruppe. Unternehmenslenker müssen daher die Entwicklung der Bedürfnisse des Marktes genau beobachten und neue, direkte und einfache Wege finden, auf ihre Kunden zuzugehen, um sich in einer zunehmend digitaleren Welt zu behaupten.

Das Interview führte KHS competence-Redakteur Stuart J. Nessbach

»Wer sich in der digitalen Welt behaupten will, muss einfacher und direkter auf seine Kunden zugehen.«