Am 23. April dieses Jahres feierten die deutschen Brauer in Ingolstadt das 500. Jubiläum des angeblich ersten Lebensmittelgesetzes der Welt. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Festrede auf die Craft Brewer zu sprechen kam und deren Experimentierfreude lobte, dürfte manchem der anwesenden Funktionäre kurz der Atem gestockt haben. So groß ist die Rivalität zwischen den Hardlinern unter den organisierten Brauern und manchen der handwerklichen Braurebellen, so unvereinbar scheinen deren Positionen, dass einige Medien publikumswirksam schon von der „Schlacht ums Reinheitsgebot“ sprechen. Verbale Abrüstung tut not.

Rein, reiner, Reinheitsgebot?

Worum geht es? Eigentlich nur um Gerste, Hopfen und Wasser – denn mehr Zutaten sollten nach den Vorstellungen bayerischer Herzöge nicht ins Bier dürfen. So unumstößlich, wie die Brauindustrie es heute gerne suggeriert, wurde die Vorschrift in der Vergangenheit allerdings nie ausgelegt: Erstens wurde aus Gerste schnell Gerstenmalz, weil man mit gekeimter und getrockneter Gerste besser brauen konnte. Zweitens durfte schon bald auch Weizen verwendet werden – sonst gäbe es kein Weißbier. Und drittens kam als weitere Zutat im 19. Jahrhundert die Hefe dazu, die im Mittelalter zwar „irgendwie da“, aber als ausgewiesene Zutat noch gänzlich unbekannt war. Viertens schließlich wurden im Lauf der Zeit immer mehr Zusatzstoffe ins Bier gegeben, etwa Kräuter, Ingwer, selbst Pottasche, gekochte Fischblase oder Kalbsfüße. Die Liste der Skurrilitäten ließe sich beliebig fortsetzen, wenn nicht die Bayern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur reinen Lehre zurückgekehrt wären und begonnen hätten, diese in Gesetze zu gießen. Schließlich machten sie 1906 ihren Beitritt zum Deutschen Reich sogar davon abhängig, dass das Reinheitsgebot im gesamten Reichsgebiet zu gelten habe.

Während die großen Brauereien bis heute das Reinheitsgebot gerne als ein Verbraucherschutzgesetz darstellen, dessen Einhaltung allein die hohe Qualität deutschen Bieres gewährleiste, sehen seine Kritiker es als ein Instrument zur Marktbeschränkung – früher zur Abschottung gegen ausländische Biere, heute gegen alles, was nicht industriellen Normen entspreche. Bisweilen ist sogar vom Einheitsgebot die Rede, das aus Bier eine langweilige und profillose Plörre gemacht habe.

Gutes Bier – böses Bier?

In den 1980er Jahren wehrte sich – mit Unterstützung der deutschen Regierung – der Deutsche Brauer-Bund gegen den Import nicht nach dem Reinheitsgebot gebrauter Biere aus anderen Mitgliedstaaten der damaligen EWG. Mit einer großen Kampagne wurde das Gebot erfolgreich als Synonym für Qualität im öffentlichen Bewusstsein verankert und ausländische Biere wurden als „Chemiebier“ gebrandmarkt – eine Zuspitzung, die viele Konsumenten bis heute für bare Münze nehmen. Das Verbot, nicht nach deutschen Regeln hergestellte ausländische Biere in Deutschland unter der Bezeichnung „Bier“ zu verkaufen, wurde vom Europäischen Gerichtshof 1987 gekippt, weil es gegen die Warenverkehrsfreiheit der EWG verstieß. Die von deutscher Seite vorgeschobenen Risiken für die Gesundheit der Bundesbürger wies das Gericht in seinem Urteil zurück: Die beanstandeten Zusatzstoffe der ausländischen Biere seien in anderen deutschen Lebensmitteln schließlich auch erlaubt.

Die Rechtslage ist seitdem nicht weniger kompliziert geworden: An die Stelle des Biersteuergesetzes der Weimarer Republik trat im Jahr 1993 zwar eine neue Regelung, die lebensmittel- und steuerrechtliche Aspekte trennt. Aber erstens führt die Verordnung seit nunmehr 23 Jahren den Zusatz „vorläufig“ im Namen, und zweitens ermöglicht sie die Situation, dass ein Brauer für ein Bier, das er weder in Deutschland noch im Ausland verkaufen darf, dennoch besteuert wird.

Auch ganz bestimmte Zusatz- und Hilfsstoffe sind nun offiziell erlaubt: Für untergärige Biere wie Lager oder Helles dürfen weiterhin ausschließlich Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser verwendet werden, aber in obergärigen Bieren wie Alt, Kölsch oder Weizenbier, die sich eigentlich nur durch die Art der Hefe von den anderen unterscheiden, dürfen auch Malze aus anderen Getreiden, Zucker und Farbstoffe zum Einsatz kommen – logisch ist das kaum nachzuvollziehen. Ausnahmen von den strikten Regeln sind zulässig, aber nur, wenn sie von den Landesbehörden im Rahmen des Gesetzes als „besonderes Bier“ anerkannt werden – und der Brauer für die Ausnahmegenehmigung bezahlt.

Traditionspflege oder Gesundheitsschutz

Erst seitdem sich eine sächsische Brauerei 2005 vor dem Bundesverwaltungsgericht eine solche Erlaubnis erstritt, werden die Genehmigungen großzügiger erteilt. Das Reinheitsgebot diene der Traditionspflege, nicht dem Gesundheitsschutz der Verbraucher, befand das Gericht, und die Vorschrift greife in die Berufsfreiheit eines Bierbrauers ein. Die Pflege einer Tradition rechtfertige nicht, alle Abweichungen davon als „minderwertiges, trügerisches (gepanschtes) oder gar gefährliches Bier“ zu verbieten.

Denn den Freistaat Bayern ficht das bis heute nicht an: Als einziges Bundesland verweigert er konsequent die Erteilung der im Bundesrecht vorgesehenen Ausnahmegeneh­migung für besondere Biere – mehr noch: Einmal gebrautem Bier verwehrt das bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit jede Aufbrauchfrist, so dass schon ganze Chargen vernichtet werden mussten.

Widersprüchliche Reinheit

Verständlich, dass diese Haltung bei Craft Breweries auf Unverständnis trifft: Wie kann es sein, dass das so sakrosankte Reinheitsgebot verhindert, dass traditionelle Bierstile gebraut werden, aber zulässt, dass dem Bier zur Schönung Stoffe wie Polyvinylpolypyrrolidon (PVPP) oder Kieselgur zugesetzt werden, und zugesteht, dass diese nicht rückstandsfrei aus dem Bier entfernt werden? Warum wirbt das Reinheitsgebot einerseits für Natürlichkeit und erlaubt andererseits, dass anstelle von frischen Hopfendolden durch Hexan oder Methylenchlorid gelöster Hopfenextrakt verwendet wird? Puristen stören sich sogar daran, dass das Bier durch Pasteurisierung physikalisch „misshandelt“ werden dürfe, was zwar der Gesundheit nicht schade, den Gerstensaft aber zu einer toten Konserve mache. Fragwürdig erscheint schließlich, warum eine Vorschrift verbietet, dem Biergeschmack mit Koriander oder Orangenschalen eine besondere Note zu geben, aber das Bier nicht vor – wenn auch äußerst geringen – Rückständen von Glyphosat schützen kann.

Für Kopfschütteln bei den kreativen Brauern sorgt, dass das Biergesetz immer wieder den Bedürfnissen der Großbrauereien angepasst wurde, zuletzt, damit Bier-Mix-Getränke auf den Markt gebracht werden konnten – mit denen sich die deutschen Brauer nach anfänglichem Lamento erstaunlich schnell angefreundet haben. Manche der Craft Brewer fordern inzwischen, das Reinheitsgebot müsse endlich durch ein Natürlichkeitsgebot abgelöst werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der weitaus größte Teil des deutschen Craft-Bieres selbst überhaupt nicht in Konflikt mit dem Reinheitsgebot steht.

Unterm Strich einig

Klar ist, dass Handlungsbedarf besteht – das bestreitet selbst der bayerische Brauerbund nicht, dem angesichts des seit Jahren rückläufigen Bierausstoßes und dem gleich­zeitigen Boom der Craft Breweries längst einleuchtet, dass eine Rückbesinnung auf Vielfalt, Geschmack und Qualität wohl ein Weg sein könnte, nachwachsende Zielgruppen wieder verstärkt zum Bier­genuss zu bewegen. Die Debatte um das Reinheitsgebot hat längst begonnen. Weniger Aufgeregtheit wird dabei sicherlich helfen, denn einig sind sich alle darin, dass man sich von den langen Listen an Zusatzstoffen, die das europäische Recht erlaubt, abgrenzen möchte. Unterm Strich geht es um Rechtssicherheit durch die bundesweit einheitliche Anwendung eines an sich gut gemeinten Gesetzes – und dafür ist die Zeit nach den Feiern des 500. Jubiläums nun gewiss reif.

Beim Festakt konnten die Funktionäre übrigens wieder aufatmen: Ihr Lob der Innovationsfähigkeit der Craft Brewer schränkte die Bundeskanzlerin ein: „… unter Beachtung des Reinheitsgebots.“