Herr Professor Lehmann, nach der Einführung von Webstuhl, Fließband und speicherprogrammierbarer Steuerung kommt mit dem Internet der Dinge jetzt die vierte große Veränderung. Was sind die wesentlichen Merkmale von Industrie 4.0 in der Produktion? Das vor vier Jahren gestartete Zukunftsprojekt Industrie 4.0 zielt darauf ab, Kunden und Geschäftspartner stärker in die Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse zu integrieren. Zugleich geht es um die wirtschaftliche und kos­tengünstige Herstellung individualisierter Produkte auf der Basis von Standards.

Was heißt das genau?

Für die künftigen Anforderungen ist die bisherige zentrale Produktionssteuerung nicht flexibel genug. Sie wird den Anforderungen nach mehr Varianz und größtmöglicher Individualität nicht gerecht. Industrie 4.0 setzt daher auf dezentrale Lösungen und die internetgestützte Vernetzung aller Bereiche, die zur Wertschöpfung beitragen.

Handelt es sich bei Industrie 4.0 um eine Revolution?

Ob etwas eine Revolution war, ist oft erst rückblickend feststellbar. Ein Beispiel sind Prozessrechner, die im Zuge der dritten Revolution während der Siebzigerjahre aufkamen. Sie brauchten eine ganze Zeit, um sich optimierend in die Prozesse einbringen zu können. So sehe ich das auch jetzt. Industrie 4.0 ist für mich eher eine Evolution mit neuen Techniken, die schrittweise eingeführt werden.

Wie sieht in der Praxis aus?

In der digitalen Produktionswelt einer Smart Factory mit vernetzten und kommunizierenden Maschinen beginnt dies bei den jeweiligen Erzeugnissen. Sie wählen automatisch den für sie passenden Herstellungsprozess. Angestrebt ist die Herstellung der Losgröße 1 zu vergleichbaren Kosten einer Serien- oder Massenproduktion. Durch optimalen Durchlauf sind gleichzeitig Energie- und Ressourceneinsparungen möglich, das heißt, die Produktion wird nachhaltiger.

»Angestrebt ist die Herstellung der Losgröße 1 zu den Kosten einer Serien- oder Massenproduktion.«

Wo liegen die Unterschiede gegenüber den in früheren Jahren eingeführten CAD/CAM-Programmen für computergestützte Konstruktion und Fertigung?

Die C-Technologien waren Insellösungen, die man in einem zweiten Schritt verbinden wollte – zur computerintegrierten Fertigung CIM. Ziel war es, von der Entwicklungsabteilung bis zur Produktion alles durchgängig zu automatisieren. Aber damals waren die Netzwerke noch nicht so weit und es gab keine schnelle Kommunikation über ein Intra- oder Internet. Auch die Computerleistungen und Speicherkapazitäten befanden sich auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Hinzu kommt, dass wir heute eine deutlich bessere Verbreitung der IT-Kenntnisse in der Bevölkerung haben und sich vor allem die jüngere Generation mit IT-Anwendungen sehr gut auskennt.

Der technologische Wandel zur Smart Factory klingt dennoch für manche wie Science-Fiction. An welcher Stelle des Prozesses befinden wir uns heute und wie kann man sich die industrielle Fertigung in Zukunft vorstellen?

Die ersten durchgängigen Implementierungen von Industrie 4.0 mit einer vollständigen Verzahnung der Produktions- und Geschäftsprozesse sind vermutlich erst in etwa 20 Jahren zu erwarten. Was die intelligente Vernetzung angeht oder den Aufbau einer Smart Factory zur wirtschaftlichen Fertigung der optimalen Losgröße 1, hat der Prozess hat jedoch schon begonnen. Dies zeigt der verstärkte Einsatz von Embedded Systems, den kleinen intelligenten Systemen mit kompletter Computerleistung auf einem Chip. Sie bilden die Basis der cyberphysischen Produktionssysteme. Bei diesen kommunizieren informatische softwaretechnische Komponenten mit mechanischen und elektronischen Teilen über das Internet. Ein wesentlicher Baustein ist auch die RFID-Technik, mit der sich Objekte über Sender-Empfänger-Systeme automatisch identifizieren und lokalisieren lassen. Sie werden insbesondere genutzt, um auf Werkstückdaten zuzugreifen und digital Informationen über Bestell- und Produktionswege bereitzustellen. Somit weiß man in der Fabrik jederzeit genau, wo sich alle Teile befinden, die für ein Fertigungslos benötigt werden.

Wo bestehen die größten Potenziale und Chancen für die Einführung von Industrie 4.0?

In der Individualisierung von Consumer-Produkten. Beispiele sind Sportschuhe, bei denen man wunschgerecht Form, Farbe und Art der Schnürung vorgeben kann, oder Fotobücher, die von Kunden nach eigenen Ideen und Vorstellungen aus einer Art Werkzeugkasten kreativ gestaltet werden.

Industrie 4.0 entfaltet überall dort ihre Stärke, wo es darum geht, die Kunden einzubeziehen und Produkte zu verbessern. Hersteller erhalten von den Kunden wertvolle Informationen, in welchen Feldern ein Produkt gut ist oder wo Verbesserungsbedarf besteht. Die Einbeziehung der Kunden trägt maßgeblich dazu bei, die Produktion entsprechend marktgerecht auszurichten. Zugleich schafft Industrie 4.0 starke Impulse für die neuen Absatzwege über das Internet. Der physikalische Transport erfolgt nach wie vor über die Transportlogistik.

»Aktuelle Studien rechnen mit einer Erhöhung der Wirtschaftlichkeit durch Industrie 4.0 um rund 30 Prozent.«

Wie steht es um die IT- und Datensicherheit bei der industriellen Nutzung des Internets der Dinge?

Auch hier gibt es neben den bekannten softwaretechnischen Lösungen weitere interessante Entwicklungen. So geht ein Hardwarehersteller beispielsweise den Weg, verstärkte Sicherheit auf Hardwareebene zu realisieren. Der Ansatz zur Verschlüsselung auf dieser Ebene hat den Vorteil, dass es potenziellen Eindringlingen sehr viel schwerer gemacht wird, das System zu hacken.

Was bringt Industrie 4.0 den Maschinen- und Anlagenherstellern und wie wirkt sich die Smart Factory auf Organisation und Prozessabläufe im Unternehmen aus?

Aktuelle Studien rechnen mit einer Erhöhung der Wirtschaftlichkeit durch Industrie 4.0 um rund 30 Prozent. Das ist ein ganz wesentliches Argument für Unternehmer, die ja stets Kosten- oder Marktvorteile anstreben. Zugleich schafft die intelligente Fertigung große Flexibilität und setzt auf flache Hierarchien. Entscheidende Bedeutung für die erfolgreiche Umsetzung haben aus meiner Sicht das persönliche Engagement der Unternehmensleitung und eine konkrete Zielvorgabe. Die Bereitschaft, sich intensiver mit dem Thema zu befassen, scheint jedenfalls vorhanden zu sein. So erklärten beispielsweise bei einer Umfrage von McKinsey über 90 Prozent der befragten Entscheider in Deutschland, Japan und den USA, dass sie die Digitalisierung der industriellen Produktion als Chance ansehen.

Industrie 4.0 hat zwar ihren technologischen Ursprung in der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT), aber letztendlich muss die Neuausrichtung in der industriellen Fertigung realisiert werden. Welche Anforderungen ergeben sich künftig für die Produktionsmitarbeiter und wie verändern sich deren Tätigkeiten?

Erforderlich sind Mitarbeiter, die sowohl über Maschinenbau-, Elektronik- als auch über IT-Kenntnisse verfügen. Hieraus werden neue Berufsbilder entstehen, bei denen das Know-how aus allen drei Feldern noch stärker als bisher zusammengeführt wird. So verfügt beispielsweise ein Facharbeiter in der Fertigungslinie über umfassende, detaillierte Kenntnisse zum Produkt und dessen Herstellung. Wenn sich mit Industrie 4.0 das Arbeitsumfeld verändert, könnte dieser Mitarbeiter nach entsprechender Schulung eine Supervisor-Rolle und die Verantwortung für mehrere Fertigungsinseln übernehmen. Er wäre dann weniger an der eigentlichen Produktherstellung beteiligt und hätte stattdessen eine mehr steuernde und überwachende Aufgabe. Bei dieser Tätigkeit würde er unter anderem direkt mit den Maschinen kommunizieren – per Tablet-PC oder noch einfacher sprachlich, wie man es von den elektronischen Sprachassistenten für Smartphones kennt.

Wichtig ist also, die Menschen mitzunehmen und in deren Aus- und Weiterbildung zu investieren …

… Genau, so ist es. Und für die passgenaue Ausbildung in Sachen Industrie 4.0 gibt es vielfältige Ansatzpunkte. Zu ihnen gehören beispielsweise auch Verbundstudiengänge, die wir für Unternehmensmitarbeiter anbieten. Intensiv für Aus- und Weiterbildungsaktivitäten genutzt werden zudem das E-Learning und Multimedia-Einsätze sowie Webkonferenzen und Lernplattformen mit Online-Kursen. Darüber hinaus eröffnen innovative Werkzeuge der virtuellen oder erweiterten Realität völlig neue Möglichkeiten des interaktiven Lernens. Von ihnen profitieren nicht nur die produktionsnahen Bereiche.

Prof. Dipl.-Ing. Dipl.-Ing. Ulrich Lehmann
Prof. Dipl.-Ing. Dipl.-Ing. Ulrich Lehmann
Prof. Dipl.-Ing. Dipl.-Ing. Ulrich Lehmann

Wie nimmt der Kunde die Veränderungen durch intelligente Fertigung wahr? Welchen Nutzen bieten ihm die digitalen Produktionswelten?

Der Konsument wird zunehmend von individuellen und dennoch kostengünstigen Produkten profitieren, die über das Internet bestellt und schnell geliefert werden können. Das Spektrum solcher »Customized«-Produkte reicht heute bereits von kundenindividuell gefertigten Müsli- und Schokoladenvarianten bis zum persönlichen Parfüm und T-Shirt. Durch die Möglichkeiten der Smart Factory und kurze Transportwege lassen sich auch die Lieferzeiten weiter verkürzen. So könnte künftig das neue Wunschausstattungs-Auto gegenüber heute in etwa der Hälfte der Zeit vor der Tür des Kunden stehen.

Wo sehen Sie beispielhafte Ansatzpunkte mit Industrie 4.0 für die KHS-Gruppe?

Auf der diesjährigen Hannover Messe, die dem Leitthema Industrie 4.0 gewidmet war, hat KHS ja bereits ein Ergebnis seines Forschungsprojekts CyberSystemConnector demonstriert: das Modell einer Anlage, die PET-Flaschen in Serie mit individuellen Dekorationen bedruckt. Ich könnte mir hier weitere Lösungen vorstellen, zum Beispiel die Flasche mit integrierter RFID-Antenne. Diese signalisiert dem System: Hierhinein gehört ein Getränk mit bestimmter Geschmacksrichtung. Daraufhin würde die Flasche eigenständig ihren Weg durch die Abfüllanlage suchen und genau in den Transportstrang für das gewünschte Produkt hineinkommen. Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit wäre es darüber hinaus vorteilhaft, wenn die Flasche ressourcensparend auf ein Etikett verzichtet und mit der NMP-Direktdruckmethode beschriftet wird.

Herr Professor Lehmann, besten Dank für
Ihre Erläuterungen und das interessante Gespräch.


Das Interview führte Jörg Michael Pläsker.

Ihr Ansprechpartner zum Thema

Christian Wopen
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

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