Europa ist mit fast 50 Ländern, in denen zirka 750 Millionen Einwohner auf einer Fläche von etwa 10,5 Millionen Quadratkilometern leben, nach Australien der kleinste Kontinent. Hier treffen sich unterschiedlichste Kulturen, und Getränkepräferenzen weichen häufig voneinander ab. In welchen Bereichen das der Fall ist, was für allgemeingültige Trendbewegungen derzeit zu erkennen sind, wie Prognosen zur Entwicklung einzelner Getränkesegmente und Verpackungsvarianten lauten, ob das Thema Nachhaltigkeit für die Getränkeindustrie weiter an Bedeutung gewinnen wird – dazu und zu zahlreichen weiteren Themen äußern sich Emily Neill, CEO Canadean, und Kevin Baker, Account Director Canadean, im Gespräch mit KHS competence.

KHS competence: Was unterscheidet den europäischen Getränkemarkt Ihrer Meinung nach hauptsächlich von anderen Getränkemärkten weltweit?

Emily Neill: Europa zählen wir bei Canadean genauso wie Nordamerika und Australasien zu der so genannten »Alten Welt«. Da haben sich viele Konsumgewohnheiten sehr stark eingespielt und Wachstumsraten von Produkten sind oft nur noch gering. Das gilt auch für Getränke. Beispielsweise rechnen wir für Softdrinks innerhalb Europas bis 2019 mit einem durchschnittlichen jährlichen Plus von knapp 1 Prozent. Das ist angesichts eines prognostizierten globalen Wachstums von 4 Prozent und Zuwächsen in Asien sowie Afrika und dem Mittleren Osten von fast 8 beziehungsweise zirka 6 Prozent nicht allzu üppig. Wesentlich ist auch, dass wir es in Europa mit einer älteren Bevölkerung zu tun haben als in der »Neuen Welt« und hier beim Getränkekonsum Tradition häufig eine besonders große Rolle spielt. Beispielsweise sind Wassermarken wie San Pellegrino, Perrier oder Evian gesetzt. Außerdem herrschen in vielen Ländern Trinkgewohnheiten vor, die über die Generationen hinweg aufrechterhalten wurden. Zum Beispiel gehört es in einem englischen Pub einfach dazu, Bier zu trinken, und in Frankreich ist das Glas Wein zu einem guten Essen fast ein Muss.

»Der wohl bedeutendste Trend, und zwar in allen europäischen Ländern, ist der zu gesunden Produkten.«

»Ich denke, dass sich der Anteil der Craft Beers am europäischen Biermarkt langfristig bei etwa 5 Prozent einpendeln wird.«

Handeln west- und osteuropäische Märkte denn genauso traditionell?

Neill: Traditionelle Marken spielen in Osteuropa eine geringere Rolle. Das liegt daran, dass Markenpolitik bis zum Fall des Eisernen Vorhangs nicht stattfand. Dennoch gibt es auch hier einige Getränke aus alten Zeiten, die heute eine erstaunliche Erfolgsgeschichte schreiben. Ein gutes Beispiel dafür ist sicher das polnische Traditionsbier Tyskie.

Wo sehen Sie weitere Differenzen zwischen den Getränkemärkten West- und Osteuropas und in welchen Bereichen herrscht ein Gleichklang?

Neill: In beiden Märkten ist feststellbar, dass auf der einen Seite Handelsmarken und auf der anderen Seite Premium-Produkte immer mehr an Bedeutung gewinnen, während die Mitte klar verliert. Was Softdrinks angeht, verbuchen sowohl in Ost- als auch in Westeuropa die zwei Kategorien Eiskaffee/Ready-to-drink-Kaffeegetränke und Energy Drinks derzeit die deutlichsten Zuwächse. In Osteuropa sind außerdem Sport Drinks, Eistee/Ready-to-drink-Teegetränke, Fruchtsaftgetränke und abgefülltes Wasser aufsteigend. In Westeuropa gibt es bei Fruchtsirup noch ein Plus.

Komplett gegenläufig verhalten sich beide Märkte in den Bereichen Säfte, Nektare und Fruchtsaftgetränke. Während in Westeuropa Säfte bevorzugt werden, sind es in Osteuropa Nektare und Fruchtsaftgetränke sowie Fruchtpulver. Sicherlich liegt dieses Verhalten mit daran, dass Osteuropäer beim Getränkeeinkauf generell sparsamer agieren. So realisiert Osteuropa 8 Prozent des weltweiten Verkaufsvolumens an alkoholfreien Getränken und Westeuropa 16 Prozent. Wertmäßig betrachtet liegt der osteuropäische Anteil bei 6 Prozent, während der westeuropäische 21 Prozent beträgt.

Interessant ist außerdem, dass in West- und Osteuropa kalorienarme karbonisierte Erfrischungsgetränke komplett anders bewertet werden. Während Osteuropäer die für diese Getränke meist verwendeten synthetisch hergestellten Süßstoffe mehrheitlich ablehnen, schätzen Westeuropäer in erster Linie die erreichte Kalorienreduzierung. Ergebnis ist, dass kalorienarme Erfrischungsgetränke in Westeuropa permanent wachsen und momentan einen etwa 25-prozentigen Marktanteil im Segment der Erfrischungsgetränke einnehmen. In Osteuropa liegt er gerade einmal bei 3 Prozent. Durch natürliche Süßungsmittel wie Stevia sehe ich allerdings eine große Chance, dass kalorienreduzierte Getränke auch im osteuropäischen Markt zunehmend an Popularität gewinnen. 

Auch was den Konsum von abgefülltem Wasser angeht, liegen westeuropäische Märkte deutlich vor den osteuropäischen. Italien, Spanien, Frankreich, Portugal, Deutschland, die Schweiz – das alles sind traditionelle Wasserländer, wobei weiteres Wachstum hier unwahrscheinlich ist. Das ist in Osteuropa anders. Dort wird abgefülltes Wasser als eine gesunde und finanziell erschwingliche Trinkoption gesehen und das treibt das Wachstum in diesem Segment voran.

Kevin Baker: Betrachten wir die Biermärkte in West- und Osteuropa, haben sich Gewohnheiten sehr aneinander angenähert. Äußerst interessant ist es, dass in ehemals typischen Bierländern auch zunehmendes Interesse an Wein entsteht und klassische Weinländer zusätzlich Bier immer mehr für sich entdecken. Momentan liegt es eher an der wirtschaftlichen Situation in Südeuropa, dass der Bierkonsum hier nicht noch deutlicher anzieht. Für Spirituosen sehe ich in Westeuropa weiterhin rückläufige Absätze, in vielen Ländern Osteuropas dagegen eine steigende Tendenz. Länder wie Polen und Russland, in denen gesetzliche und steuerliche Hürden geschaffen wurden, sind davon ausgenommen. Generell rechnen wir damit, dass »weiße« Spirituosen wie Wodka, Tequila und Gin auf Kosten der »dunklen« Spirituosen wie Whisky und Brandy wachsen.

Lange Zeit galten die osteuropäischen Länder auch als Wachstumsmärkte für Bier. Sehen Sie hier künftig noch Potenzial?

Baker: Ja, das stimmt. Gewisse osteuropäische Märkte könnten bei Verbesserung der wirtschaftlichen Lage durchaus noch ein Bierwachstum generieren. Oft sind jedoch auch hier Einschränkungen vom Gesetzgeber für einen sinkenden Bierkonsum verantwortlich. In Russland gab es durch steuerliche Restriktionen und ein Verbot des Bierverkaufs an Kiosken, dem Distributionskanal, der etwa 30 Prozent des gesamten Bierumsatzes managte, beispielsweise riesige Einschnitte. Aktuell wird dort darüber diskutiert, ob Bier in großen PET-Flaschen noch vermarktet werden darf. Da PET-Großgebinde gerade in Russland äußerst beliebt sind, würde das dem dortigen Bierkonsum einen weiteren ordentlichen Dämpfer versetzen. Insgesamt gesehen denke ich, dass sich am Ranking der Bierländer Europas auch in Zukunft wenig ändern wird.

Wie ist das bei Softdrinks, Wein und Spirituosen?

Neill: In allen drei Bereichen ganz ähnlich. Wie bereits erwähnt, ist der europäische Markt eher traditionell geprägt auch wenn hier und da noch mit geringen Verschiebungen zu rechnen ist. Beispielsweise gehen wir bei Softdrinks davon aus, dass sich die Marktanteile der einzelnen Länder am europäischen Softdrink-Konsum bis 2020 geringfügig verändern. Deutschland und Frankreich werden on top bleiben. Statt Italien kommt unseren Prognosen zufolge Russland auf Platz drei. Die Türkei überholt Polen und steigt vom achten auf den siebten Platz auf. Rumänien, derzeit auf Rang neun, zieht an Belgien, den Niederlanden und der Ukraine vorbei.

Trotz überwiegend traditioneller Strukturen – gibt es denn Trendbewegungen, an denen sich die europäische Getränkebranche künftig orientieren sollte?

Neill: Der wohl bedeutendste Trend, und zwar in allen europäischen Ländern und über alle Getränkesegmente hinweg, ist der zu gesunden Produkten. Kokosnusswasser mit Fruchtsaft gemixt, Holunder-/Tee- oder auch Ingwergetränke – alles das kommt beim Verbraucher an und unterstützt seinen Wunsch nach gesunder Ernährung, Wellness, Natürlichkeit und Qualität. Die aufgezählten Getränkevarianten tragen auch einem weiteren Trend Rechnung und der lautet: Innovation. Innovation wird großen Getränkekonzernen genauso zugetraut wie kleinen Start-ups – solange sie mit der Marke harmoniert. Und Innovation bedeutet nicht nur, neue Getränkerezepturen auszuprobieren beziehungsweise nostalgische Produkte wiederzubeleben, sondern kann durchaus auch im Bereich der Verpackung stattfinden. Allein der Austausch einer klassischen PET-Flasche gegen die Konturflasche mag bereits einiges bewirken. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass der Verbraucher künftig verstärkt Wert darauf legen wird, das richtige Produkt für seine jeweilige Konsumsituation zu erhalten. Das gibt beispielsweise im Handtaschenformat gehaltenen Pouchverpackungen zusätzlichen Auftrieb. Während der Geschäftsbesprechung das Konzentrat aus dem Pouch in ein Glas füllen, mit Wasser aufgießen und das gesunde und gleichzeitig geschmackvolle Getränk ist fertig – so einfach wünschen es sich die Konsumenten vielfach schon heute und sicher noch mehr in der Zukunft.

Baker: Der Trend zu Gesundheit bedeutet bei den Alkoholika eine steigende Hinwendung zu Produkten mit einem niedrigen Alkoholgehalt, die gerne auch süß schmecken dürfen. Davon profitiert zum Beispiel Radler ganz genauso wie Cider. Ein weiterer Trend, der im Bereich aller Getränkekategorien feststellbar ist, ist der zu Premium-Produkten. Menschen identifizieren sich immer stärker mit Marken und werden von Anderen auch immer häufiger danach beurteilt, für welche Marken sie sich entscheiden. Das macht es für die Getränkeindustrie gleichzeitig immer wichtiger, Erlebnisse und Geschichten rund um ihr Produkt zu kreieren. Dabei darf nicht vergessen werden, stets umweltfreundlich und nachhaltig zu agieren.

Neill: Gerade durch Social Media werden Unternehmen durchschaubarer und eventuelle Versäumnisse gehen im Nu »rund um die Welt«. Der positive Aspekt dieser Kommunikationsschiene ist es, dass sich Informationen besonders schnell streuen lassen und ein ganz anderes Erleben von Produkten fördern, als es ehemals möglich war.

Zu den Stichworten Erlebnischarakter, Premium- Anspruch und Innovation passt das Konzept zahlreicher Craft Breweries. Liegen sie demnach voll im Trend?

Baker: Genau so ist es. Craft Breweries sind experimentierfreudig, haben oft ein ganz eigenständiges Konzept, vermitteln Spaß am Produkt und an der Arbeit und bringen immer wieder überraschende Bierkreationen in den Markt. Ursprünglich in den USA zuhause, sind Craft Breweries mittlerweile auf allen Kontinenten präsent. Auch in Euro­pa haben sie gut Fuß gefasst, werden dort meiner Meinung nach allerdings nicht so schnell wachsen wie in den USA. Das liegt daran, dass wir in Europa bereits traditionell zahlreiche Bierspezialitäten anbieten, was in den USA vor dem Entstehen der Craft-Brewery-Szene eben nicht so war. Ich denke, dass sich der Anteil der so genannten Craft Beers am europäischen Biermarkt langfristig bei etwa 5 Prozent einpendeln wird.

»Der Trend zu Gesundheit bedeutet bei den Alkoholika eine steigende Hinwendung zu Produkten mit einem niedrigen Alkoholgehalt, die gerne auch süß schmecken dürfen.«

Neill: Craft Breweries vermitteln dem Verbraucher auch Exklusivität, Authentizität und Regionalität. Sie genießen im Grunde genommen das Image, das – um über den Tellerrand hinauszublicken – auch kleine Chocolaterien, handwerkliche Käsehersteller oder Bauernmärkte haben. Übrigens entstehen auch immer mehr Softdrink-Unternehmen, die eine ähnliche Strategie verfolgen. Gute Beispiele dafür sind Innocent Drinks oder True Fruits.

Baker: Und auch in der Spirituosenbranche geht es hin zu exklusiven Produkten mit kleiner Auflage und zu spezialisierten Kleinbrennereien mit einer Geschichte, die Konsumenten fasziniert.

Zum Thema Verpackung. Welche Trends sehen Sie hier?

Neill: Weltweit wird das stärkste Wachstum bei Getränkeverpackungen die PET-Flasche auf sich verbuchen. Für sie prognostizieren wir ein jährliches Plus von zirka 6 Prozent, für Glasflasche und Dose um die 3 Prozent. International und in Europa treiben vor allem die Softdrinks das Wachstum von Kunststoffflaschen. Als Wein- und Spirituosenverpackung werden die Leichten so gut wie ausschließlich für Outdoor-Veranstaltungen eingesetzt, ansonsten ist hier die traditionelle Glasverpackung das Gebinde der Wahl. Das bleibt unserer Einschätzung nach auch in den nächsten Jahren so. Was Bier betrifft, gehen wir davon aus, dass Kunststoffflaschen innerhalb Europas auch in Zukunft vor allem im Osten populär sind, während sie im Westen keine wachsende Akzeptanz finden. Die Dose wird über alle Getränkebereiche hinweg ein Convenience-Gebinde bleiben, das durchaus auch als Statussymbol gelten kann. Ein Beispiel dafür ist der Konsum angesagter Energy Drinks aus der Dose.

Sehen Sie für PET-Flaschen künftig einen Trend hin zu noch mehr Lightweighting?

Neill: Auf jeden Fall. Lightweighting wird immer wichtiger. Nicht nur, weil Produktionskosten dadurch gemindert werden, sondern auch aus Gründen der Nachhaltigkeit.

Wenn Sie der europäischen Getränkebranche in nur einem Satz eine Empfehlung für eine erfolgreiche Zukunft geben könnten, wie würde dieser Satz lauten?

Neill: Beachten Sie Trendbewegungen und bleiben Sie so innovativ, wie es Ihre Marke erlaubt, ansonsten werden Sie von der Konkurrenz eventuell schneller überholt, als Ihnen lieb ist.

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch.


Das Interview führte Friederike Arndt.