Herr Eilken, welche Bedeutung haben Sekundär­verpackungen und welche Funktionen übernehmen sie für die jeweiligen Bezugsgruppen aus Ihrer Sicht als Verpackungsdesigner?

Für Hersteller sind sowohl die Primär- als auch die Sekundärverpackung Branding-Plattformen, die Shelf Impact, also die Aufmerksamkeit des Verbrauchers am Point-of-Sale, garantieren und ihn so anziehen wie das Licht die Motten. Wir sprechen hier von dem First Moment of Truth ­(sie­he Kasten „Momente der Wahrheit“), der ersten von insgesamt vier Situationen rund um das Marken­erlebnis. Denken Sie beispielsweise an Duty-free-Läden, wo durch die Sekundärverpackung eine Premiumisierung entsteht, mit der Hersteller die Wertigkeit ihrer Produkte unterstreichen. Eine Transportverpackung hingegen hat die Aufgabe, für Convenience zu sorgen. Für den Einzelhandel spielt die Verpackung sowohl hinsichtlich des Abverkaufs als auch der Bestückung von Zweitplatzierungen eine große Rolle. Beim Discounter muss es eher schnell gehen, deshalb steht hier die regalfertige Verpackung beispielsweise mit Trays im Vordergrund, die auch eine Botschaft vermitteln können. Im Online-Handel hat das Thema Verpackungsdesign zwar noch wenig Relevanz, das wird sich aber bald ändern. Die Herausforderungen sind der Versandkomfort und die Optimierung von Logistik, etwa durch eine kühlende Verpackung – hier wird sicher viel passieren. Der Konsument erlebt durch die Verpackung den Zusatznutzen in Form eines einfacheren Handlings. Das Produkt kann noch so gut sein, wenn aber auf dem Nachhauseweg, in dem Second Moment of Truth, der Trageriemen seines Sixpacks reißt, wird er das Produkt vielleicht nie wieder kaufen. Natürlich ist die Verpackung auch Teil des Markenerlebnisses – denken Sie nur an die „Unpacking Experience“, also die Freude beim Auspacken, etwa bei einem Apple-Gerät.

Welchen Einfluss haben die Funktionalität und das Design einer Verpackung auf die Kaufentscheidung und die Preistoleranz des Konsumenten?

Im First und Second Moment of Truth muss die Verpackung funktionieren. Für ein Produkt in ansprechender Verpackung geben Verbraucher mehr Geld aus – das gilt selbst für mich, obwohl ich täglich mit dem Thema zu tun habe und die Mechanismen von Verpackungsdesign natürlich gut kenne. Der Konsument möchte das Image einer von ihm bevorzugten Marke auf sich selbst übertragen – das ist klassisches Marketing.

»Beim Verpackungsdesign geht es immer auch um Ergonomie, also um die praktische Anwendung, um Prozeduren und Rituale.«

Was heißt das für die Gestaltung von Sekundär­verpackungen hinsichtlich Form und Optik?

Zielgruppen- und Kategorie-adäquates Design sind die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Produkt: Ich muss die Zielgruppe und ihre Codes kennen. Das bedeutet, dass ich mich zum Beispiel bei einer bestimmten ­Altersgruppe fragen muss, wie ihr Lifestyle aussieht und womit sie sich auseinandersetzt, um darauf aufbauend ein Design entwickeln zu können. Spreche ich mit Älteren, mit Kindern oder mit den Eltern? Ein anderer Blickwinkel sind die Codes der Kategorie: Bei Wasser werden Sie immer eine transparente Flasche erwarten. Auch die Farben Blau und Grün sind Codes, die im Zusammenhang mit Wasser gelernt sind, zum Beispiel in Bezug auf den Flaschenverschluss. Andere Farben stehen meist für Flavoured Water. Es gibt aber auch Form-Codes: Eine Eisteeflasche, eine Molkereiflasche oder die Flasche eines Kaffeegetränks werden immer eine andere Silhouette haben als eine Wasserflasche. Ein Milchprodukt werden sie kaum in einer extrem schlanken, ­hohen Flasche finden. Entweder bediene ich mich als Designer dieser Codes, oder ich verlasse sie bewusst, um mich interessanter zu machen – ein gutes Beispiel dafür sind etwa Blechdosen für Haarstyling-Produkte oder die türkisblaue Flasche einer bestimmten Gin-Marke.

Wie müssen Primär- und Sekundärverpackung aufeinander abgestimmt werden?

Im Idealfall sind beide im Rahmen eines Gesamtkonzeptes miteinander verzahnt. Hier geht es auch um Typographie, Grafik, Farbe und Veredelungen – das alles muss Hand in Hand gehen. Das klappt immer dann am besten, wenn die Entwicklung gemeinsam erfolgt. Sekundärverpackungen können kommunikative Funktionen der Primärverpackung übernehmen, wenn diese immer reduzierter gestaltet werden, oder können dem Produkt zusätzliche Originalität verleihen. Beim Deutschen Verpackungspreis haben wir als Jury kürzlich ein Sixpack-Basket ausgezeichnet, das mit Seitengriffen bewusst an die Form eines Bierkastens erinnert – auf diese eigentlich naheliegende Idee war bisher niemand gekommen.

Was sind für Sie die entscheidenden Parameter bei der Gestaltung von Sekundärverpackungen? Von welchen Prinzipien lassen Sie sich leiten?

Neben Codes, Markenwerten und Impact geht es immer auch um Ergonomie, also um die praktische Anwendung, um Prozeduren und Rituale. Wie gehen Sie zum Beispiel mit einem Sixpack Bier um? Ich packe die Flaschen nicht aus, sondern stelle sie in der Sekundärverpackung in den Kühlschrank und löse die Flaschen nach und nach heraus. Es ist wichtig, dass wir möglichst genau wissen, wie ein Produkt verwendet wird, bevor wir seine Verpackung entwerfen – und dafür brauchen wir natürlich Marktforschung.

Wie gehen Sie bei der Gestaltung von Verpackungen vor? Wie läuft der Prozess vom Briefing bis zur fertigen Verpackung ab – und wie hat sich dieser verändert?

Dem eigentlichen Entwurfsvorgang ist ein komplexer strategischer Prozess vorgeschaltet: Um mein Briefing zu konkretisieren, nutze ich das Designthinking und bestimmte Strategie-Tools, bei denen Unbeteiligte in die Brainstorming-Phase involviert werden. Wir analy­sieren die Marke und die Codes in Workshops oder Strategieteams. Je mehr Stakeholder ich hinzuziehe, umso schneller und effizienter lassen sich Projekte umsetzen. Der Gestaltungsprozess selbst erfordert dann wieder ein Maximum an Freiheit, um zu einer Idee zu kommen, von der es dann nicht nur eine Version, sondern auch Varianten gibt. Wir Designer müssen unsere Kunden aber auch führen – wir sprechen hier von Design Leadership – denn Design ist kein demokratischer Prozess, auch wenn er sich in der Realität manchmal in diese Richtung entwickelt und man dann von einer Schleife zur nächsten geht. Bei manchen unserer Kunden wächst aber das Bewusstsein für Design. Hier überlässt man Design nicht einfach nur dem Produktmanager, sondern etabliert Designmanager, die die Agenturen begleiten und führen.

Gibt es Möglichkeiten, die Qualität eines Verpackungs­designs zu messen?

Zunächst stellt sich doch die Frage nach der Definition von Qualität: Sprechen wir von gestalterischer Qualität oder Abverkauf? Viele Produktmarken zeigen solides Handwerk statt eines innovativen Designs, erfüllen aber die Anforderungen des Kunden und verkaufen sich ausgezeichnet. Umgekehrt habe ich schon von Markenherstellern gehört, deren Produkte mit einem Designpreis ausgezeichnet wurden, die sich aber nicht recht freuen wollten, weil sie glaubten, dass sich ihr Produkt deshalb nicht verkaufen ließe. Marktforscher behaupten zwar gerne, sie könnten die Qualität von Verpackungsdesign messen. Ich bezweifle das. Wir Designer selbst haben ein anderes Verständnis von Designqualität – manchmal vielleicht sogar geschmäcklerisch. Letztlich muss man Mut haben, um innovatives Design umzusetzen. So manches Produkt, das heute erfolgreich im Markt etabliert ist, hätte das Urteil der Marktforschung nicht überlebt.

»Verpackung muss ehrlicher werden und weniger Luftschlösser bauen.«


Das Interview führte KHS competence-Redakteur Stuart J. Nessbach

Wie haben sich Sekundärverpackungen insgesamt in den letzten 20 Jahren verändert?

Seit einigen Jahren beobachten wir eine Premiumisierung: Der Getränkekasten wird heute weniger als Transportmittel betrachtet und mehr als Marketing-Tool – eine Entwicklung, die relativ lange gebraucht hat. Hier fällt mir etwa die Brauerei Veltins ein, die seit 2009 mit ihrem von Porsche-Design entwickelten Kasten der zunehmenden Nachfrage nach ästhetischer Produktgestaltung entsprochen hat.

Welche Trends beobachten Sie aktuell in der Verpackungsgestaltung?

Die Verpackung folgt auch weiterhin den großen Mega­trends: Neben der Premiumisierung sind das Convenience, Individualisierung und besonders Nachhaltigkeit. Verpackung muss ehrlicher werden und weniger Luftschlösser bauen – der Inhalt wird stärker zählen. Außerdem werden die vier Moments of Truth immer wichtiger: Speziell mit Blick auf den Zero-Moment, also die Situation, in der der Verbraucher sich online informiert, muss ich mir Gedanken darüber machen, wie ich nachwachsende Generationen anspreche, die nur noch über ­Kanäle wie Pop-up-Stores, Social Media wie Snapchat oder über Games zu erreichen sind.

Welche Anforderungen stellen diese Entwicklungen an die Verpackungstechnologie?

Nachhaltigkeit wird immer selbstverständlicher und dient immer weniger dem Greenwashing. Das nutzt dem Hersteller, weil ökologische Nachhaltigkeit meist ökonomische Nachhaltigkeit mit sich bringt. Das Thema Smart Packaging wird an Gewicht gewinnen – also Individualisierung und Interaktion: wenn etwa die Verpackung erkennt, ob ein Mann oder eine Frau sie anschaut. Es gibt zwar heute schon nette Spielereien mit QR-Codes und Augmented Reality, aber wenn gedruckte Elektronik mit organischen Leuchtdioden (OLED) bald massentauglich wird, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten der Marken­bindung. Vielleicht sehen wir demnächst auch sinnvolle Anwendungen mit RFID (Sender-Empfänger-Systeme zur Lokalisierung von Objekten per Funk) oder anderen Funktechnologien. 3D-Druck wird sicher eine Rolle spielen. Neben dem Rapid Prototyping gibt es jetzt auch das Rapid Tooling, bei dem Metallwerkzeuge nicht mehr gefräst, sondern mit Hilfe von SLS, dem selektiven Lasers­intern, gedruckt werden. Und mit der Selbstverständlichkeit, mit der ein italienischer Pastahersteller heute schon Nudeln für die Gastronomie druckt, drucken wir in Zukunft vielleicht auch Verpackungen.

Welche Branche ist aus Ihrer Sicht führend in der Packungsentwicklung und was kann speziell die Getränkeindustrie von dieser lernen?

Insgesamt glaube ich, dass es eher einzelne Marken als ganze Branchen sind, die eine Vorreiterrolle einnehmen. Mir fallen in diesem Zusammenhang spontan kleinere Smoothie-Marken wie True Fruits oder Innocent ein. Und manche Länder oder Regionen sind anderen voraus, etwa Asien und dort speziell Japan. Für uns in Europa übernimmt England diese Rolle: Wenn ich persönlich nach Inspirationen suche, gehe ich einfach in London in einen Supermarkt.

Gibt es für Sie so etwas wie die ideale Verpackung – im Sinne einer ultimativen, heraus­ragenden Erfolgsgeschichte?

Jedes Land hat seine eigene Ikone. Ob das bei uns die Nivea-Dose ist oder in Schweden die Absolut-Flasche, die auch weltweit erfolgreich ist. Auch wenn das vielleicht naheliegend erscheint – mich persönlich begeistert am meisten die Form der Coke-Flasche als globale, unverwechselbare Chiffre für ein Erfrischungsgetränk.